Portraits sind anders. Ich habe ein Bild von mir selbst im Kopf, oder von einer bekannten oder befreundeten Person. Und dann sehe ich ein Foto desselben Menschen, und alles kann anders sein. "Das bin ich nicht!", "Da mache ich aber ein dummes Gesicht!" Besser wäre natürlich, "Das ist ja toll!"
Warum sehen manche Leute auf Fotos anscheinend immer schlecht aus (ich zum Beispiel)? Und warum gelingt es manchen Fotografen dann trotzdem, ein gutes Foto eben dieser Menschen zu machen (sogar von mir)? Und warum mache ich bei einer Fotosession zwischen einhundert und fünfhundert Bilder, wenn ich dann doch nur fünf davon verwende? Und warum dauern meine Portraitsitzungen oft zwei Stunden oder länger, wenn ein Passbild, auf dem im Prinzip das Gleiche drauf ist, in drei Minuten "im Kasten" ist? 
Ok, also dass ich auf den meisten Fotos dumm aussehe, liegt eindeutig an mir. Natürlich will ich nicht dumm aussehen. Also gucke ich besonders toll. Nur - ich bin kein Schauspieler. Ich habe keine Ahnung, was ich mit meinem Gesicht anstellen muss, damit es in meinem Sinn "toll" aussieht. Schon gar nicht, wenn ich mich nicht im Spiegel sehe. Und so geht es den meisten Leuten. Was man nicht geübt hat, kann man auch nicht. Selbst von Natur aus sehr schöne Menschen schaffen es, auf Fotos schlecht auszusehen.
Das ist eine Stelle, an der die Dauer unseres Treffens eine Rolle spielt. Niemand hält es zwei Stunden lang durch, das Gesicht zu verziehen. Egal ob das unbewusst oder bewusst geschieht. Nach einer Weile kommt das natürliche Gesicht durch. Und das ist eigentlich immer schön. Gut, magst du jetzt sagen, dann warten wir einfach, bis ich es müde geworden bin, mich zu verstellen, und dann machen wir noch zwei drei Bilder und sind fertig.

Ja, das kann so laufen. Aber es gibt noch mehr. Gesichter sind sehr beweglich. Ich habe Leute fotografiert, die mir in einer Minute zwanzig verschiedene Gesichtsausdrücke zeigen können - alle natürlich, alle irgendwie interessant, aber die wenigsten davon sind für eine Bild geeignet, das man an die Wand hängen und längere Zeit betrachten möchte. Das ist dann wie mit einem Buch, das insgesamt wunderbar geschrieben ist, aber nur ein paar Absätze sind so perfekt, so in sich abgerundet, dass man sie als Zitat fuer sich alleine wirken lassen kann. Hamlet ist ein tolles Theaterstück, aber es haben es nur ein paar Sätze daraus in den allgemeinen Sprachgebrauch geschafft. Wenn man nur den ersten Akt liest, hat man "Etwas ist faul im Staate Dänemarks", nicht aber "Sein oder Nichtsein" gefunden. Oder, etwas platter ausgedrückt, nur wer den ganzen Kuchen isst, erwischt auch alle Rosinen.
In der Fotografie kommt als zusätzliches Element hinzu, dass man nicht so einfach zurückblättern kann. Und man kann auch nicht einfach stehenbleiben. Sicher, manche Gesichtsausdrücke kann man auch länger halten. Das kennen wir von diesen alten Schwarzweissfotos. Bedeutungsschwere, ernste Mienen, denn wenn das Foto fast eine Minute Stillhalten verlangt, kann man nicht so einfach mal "bitte recht freundlich" sein. Oft ist ein Gesichtsausdruck, der den portraitierten Menschen besonders gut zeigt, nur für Sekundenbruchteile zu sehen. Also macht man viele Aufnahmen, in der Hoffnung, eine Reihe von guten oder sogar hervorragenden Momenten zu erwischen.
Also, sehr oft wird man reich belohnt, wenn man sich genug Zeit nimmt für die Fotos. Mit zunehmender Erfahrung wächst auch das Gespür dafür, wann es sich noch lohnt, weiterzumachen. Wie lange genau ist verschieden von Einzelfall zu Einzelfall, aber zwei Stunden sind ein guter Richtwert. Irgend wann ist dann die Spannkraft verbraucht, und es bringt nichts, weiterzuarbeiten. Aber natürlich können wir jederzeit einen weiteren Termin ausmachen, um mit frischem Kopf noch schönere Bilder zu machen.

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